Sonntag, 24. Februar 2013

It makes you scared of what tomorrow may bring...

Seit dem Ausbruch des "Arabischen Frühlings" in Ägypten ist das Land in allen Medien immer und immer wieder aufgetaucht. Gerade in solchen Fällen ertappe ich mich dabei, wie so viele eine Meldung, die mir dauernd aufgetischt wird, irgendwann ausblenden. Entnervt. Gerade was die arabischen Staaten angeht, denke ich mir oft "Können die diese Konflikte nicht endlich, endlich in den Griff bekommen?!"
Ich kann die Beweggründe nachvollziehen, die die einzelnen Parteien dazu bringen, sich immer wieder aufs Neue zu bekämpfen und dem Land und seiner Bevölkerung keine Ruhe zu gönnen. Doch ich kann sie nicht verstehen. Es ist mir unbegreiflich, wie man derart egoistisch, stur und realitätsfremd sein kann, sich nicht einfach zusammen zu setzen und zu sagen: "Wir wollen in diesem Land leben. Wir alle. Und zwar so gut wie möglich. Also sehen wir zu, dass wir das für alle realisieren." Ich weiß, das klingt sehr idealistisch, aber warum nicht? Warum können Menschen nicht über ihren Schatten springen, sich zu Fehlern bekennen und sich für das Wohl ihrer Mitmenschen einsetzen? Gerade in wichtigen Positionen.
Aber derartiges haben wir ja hierzulande auch, dafür müssen wir nicht nach Ägypten sehen. Warum dieses Land derzeit dennoch in den Schlagzeilen sein müsste, es mir aber unbegreiflicherweise nicht ist: Öffentliche Vergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz. Dem Platz, an dem alles begann und weiterhin andauert.

Wäre Mr. A nicht zufällig vorgestern über eine Meldung zu diesem Thema gestolpert, ich hätte es wohl nie erfahren, obwohl sich bei etlichen Zeitungen online Artikel dazu finden.
Kairo hat in den vergangenen zwei Jahren sehr gelitten. Die Infrastruktur hat sich zusehends verschlechtert. Unrat liegt in den Straßen, die große Schlaglöcher aufweisen. Pflastersteine wurden als Wurfgeschosse bei Straßenschlachten gebraucht und selbstverständlich nicht wieder aufgesammelt und zurückgesetzt. Gebäude verfallen, investiert wird nurnoch in Befestigungsanlagen für Botschaften und Regierungsgebäude. Die Kriminalität steigt, finanziell gut gestellte Bürger verlassen die Stadt. Alles in allem: Es geht bergab.
Die steigende sexuelle Gewalt an Frauen ist nur das i-Tüpfelchen auf der Situation.

Frauen hatten innerhalb der Revolution eine tragende Rolle. Ginge es nach der Muslimbruderschaft, der Präsident Mohammed Mursi entstammt, ist es nun an der Zeit für sie, wieder an ihren angestammten Platz in der unteren Hälfte der Gesellschaft zurückzukehren. Sexuelle Gewalt war bereits im Regime von Husni Mubarak ein Mittel um politische Gegenwehr von Frauen zu unterdrücken. Doch die nun aufkommenden Gruppenvergewaltigungen sprengen jede bisher dagewesene Dimension.
Die Vorgehensweise:
"Eine Frau wird von ihrer Gruppe getrennt, der Mob, oft mehrere Dutzend Männer, bildet einen Kreis um sie, die Männer begrapschen sie, reißen ihr die Kleider vom Leib, und wenn sie versucht, zu fliehen, hetzen sie ihr hinterher. Es gibt Videos solcher Jagdszenen. Verwackelte Bilder, die Quelle ist meist unbekannt."

Beinahe jeden Abend kommt es zu sexuellen Übergriffen. Das Militär wird als ausschlaggebende Stelle beschuldigt, aufgrund der gut organisierten Vorgehensweise des spontan zusammenkommenden Mobs von manchmal bis zu 200 Männern. Frauen werden in Ecken gezerrt, ausgezogen und misshandelt. Auf alle erdenklichen und unvorstellbaren Art und Weisen. Aufgrund der Häufung dieser Vorkommnisse ist jedoch nicht mehr nur eine Gruppierung ins Auge zu fassen. Die Täter sind in allen Altersklassen zu finden, manche gerade mal 12 Jahre alt. Das Alter der Frauen ist ebenfalls sehr variabel. Ausschlaggebend ist nur ihr Geschlecht.
19 Angriffe zählte die Organisation für Frauenrechte und „feministische Studien“, Nazra, alleine am 25. Januar 2013, dem zweiten Jahrestag des Revolutionsbeginns, rund um den Tahrir-Platz.
Traurig ist: Sexuelle Gewalt an Frauen ist nichts Ungewöhnliches in Ägypten. Sie ist erschreckenderweise geradezu als "gewöhnlich" zu bezeichnen. Zu viele Vorfälle gab es in der vergangenen Zeit. Es gibt Zeiten, zu denen Frauen bereits gewohnt sind, das Haus nicht zu verlassen, um nicht überfallen zu werden. So beispielsweise die Stunden nach den Freitagsgebeten und an Feiertagen. Auch hier taucht wieder die allseits beliebte und ebenso stupide Anschuldigung auf: Die Frauen würden sich zu aufreizend kleiden und hätten die Situationen so heraufbeschworen.
"83 Prozent aller Ägypterinnen gaben in einer Umfrage des ägyptischen Zentrums für Frauenrechte aus dem Jahre 2008 an, mindestens einmal im Leben sexuell belästigt worden zu sein. Bei den Ausländerinnen im Land waren es 98 Prozent. Über zwei Drittel aller Frauen behaupteten, täglich sexuelle Gewalt zu erleben. Nur zwölf Prozent aller Vorfälle werden dabei überhaupt zur Anzeige gebracht."

Heute könnten die Zahlen höher sein, denn seit der Revolution sind die Sicherheitskräfte von den Straßen verschwunden.
Von internationalem Interesse wird die ganze Angelegenheit, und das macht die Geschichte eigentlich noch ein ganzes Stück trauriger und mich ein wenig aggressiver, als ohnehin schon, vor allem nachdem bekannt wurde, dass die südamerikanische Kriegs-Journalistin Lara Logan am Tag des Regimesturzes 2011 in Ägypten von rund 250 Männern misshandelt wurde. Die ägyptisch-amerikanischen Journalistin Mona el-Tahawy wurde von Polizisten verhaftet und ebenfalls misshandelt. Auch die französische Reporterin Caroline Sinz ist im November 2011 von einer Gruppe Jugendlicher und Erwachsener verprügelt sexuell belästigt worden. Im vergangenen Oktober umzingelten Männer die France-24-Korrespondentin Sonja Dridi, begrapschten und stießen sie umher, ehe sie von einem Kollegen aus der Menge gezerrt wurde.
Dazu kommt ein Übergiff von vor ca zwei Wochen, vom zweiten Jahrestag der Revolution, als eine 19-Jährige auf dem Tahrir-Platz in eine Seitenstraße gezerrt, nackt ausgezogen und mit einem Messer vergewaltigt wurde. Mit schweren Schnittwunden im Genitalbereich liegt sie nun im Krankenhaus.
Es findet sich eine gewisse Überschneidung mit der brutalen Vergwaltigung der jungen Studentin in Indien, die zusammen mit ihrem Freund in einen Bus gezerrt, misshandelt und schwerst verletzt zurückgelassen wurde. Auch in Indien sind sexuelle Belästigungen und Übergriffe keine unbekannte Seltenheit, doch erst wenn die Fälle derart schwer werden, rufen sie das Mitleid und die Empörung der Welt auf den Plan.

Was dagegen getan wird?

Von Seiten der Aktivisten wurde die Operation "Anti-Sexual Harassment" (OpAntiSH) ins Leben gerufen, die an Tagen großer Demonstrationen, wenn sich die Täter in der Menge sicher fühlen, mit über 100 Teilnehmern über den Platz patroulliert um Frauen vor Übergriffen zu warnen und zu schützen. Mitläufer sind ein großes Problem, denn selbst wenn nur eine kleine Gruppe anfängt, eskaliert die Situation schnell und immer mehr Menschen fallen über die betroffenen Frauen her.
"Die Art der Belästigung beim Demonstrieren ist anders als die alltägliche Belästigung auf der Straße", sagt Zohney. "Sie ist vulgärer, zielt auf Ehre und Stolz. Es soll den Willen der Frauen brechen." Doch gibt es auch Mitläufer unter den Angreifern. Viele der Männer ergreifen die Gelegenheit, wenn das Opfer hilflos ist. Wenn sie die Möglichkeit haben, eine Frau zu berühren. Sie nutzen den Raum der Anonymität, wenn große Menschenmengen zusammenkommen."

Aber auch andere Organisationen haben sich gebildet, um gegen die Vergewaltigungen vorzugehen, namentlich beispielweise "Tahrir Bodyguard", deren Einheiten von jeweils 30 Personen in sechsstündigen Schichten den Tahrir-Platz überwachen, oder der "Egyptian Initiative for Personal Rights". Doch auch sie sind oft machtlos, versuchen zwar Frauen auch aus einem Kreis Angreifer zu befreien, doch zumeist können sie nurnoch die Opfer aufsammeln und ihnen Kleidung und medizinische Hilfe anbieten. Ihr Risiko dabei ist nicht gering, denn sie werden oft selbst Ziel von Angriffen, wenn sie versuchen einzuschreiten.
Es gibt dazu eine Telefonhotline, die Therapeuten vermittelt und Informationen für weiterführende Hilfestellungen vergibt, und die Möglichkeit, für misshandelte Frauen zu spenden. Auf http://harassmap.org/ können Übergriffe gemeldet werden. Die Vorgehensweisen mit den Tätern sind unterschiedlich. Während sie beispielsweise von der Organisation "Imprint Movement", eine Gruppe von 60 festen Mitgliedern und einem erweiterten Freiwilligenkreis von rund 200 Aktivisten, isoliert und der Polizei übergeben werden, gehen andere Gruppierungen weitaus gewalttätiger vor und prügeln die Gefassten an Ort und stelle nieder.
Passanten und Polizei sieht man wohl zumeist unbeteiligt.  Ganz im Gegenteil. Stellenweise tauchen sogar Berichte auf, die Polizisten als Teilnehmer der Vergewaltigungen beschuldigen. Es wurde noch kein einziger Täter gefasst.
Angewidert meldete sich jetzt erstmals auch die Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, Navi Pillay, zu Wort. „Ich verurteile auf Schärfste, dass die Polizei diese Verbrechen nicht verhindert und die Staatsanwaltschaft bis heute nur eine einzige Anzeige erstattet hat, obwohl mehrere hundert Männer an diesen abscheulichen Taten beteiligt waren", sagte sie.

Auch von Seiten der Politik ist nicht viel geschehen bisher. Auch hier wurde eher gegenteilig gehandelt. So wurde im im inzwischen aufgelösten Parlament darüber diskutiert, Frauen die Scheidung zu verbieten und ihr Heiratsalter von achtzehn auf zwölf Jahre zu senken.
"Premier Hischam Kandil fällt allenfalls durch verbale Missgriffe auf. Frauen, so verkündete er, würden auch deshalb vergewaltigt, weil sie ihre Notdurft im Freien verrichteten. Und seine Sozialministerin Nagwa Chalil meinte: »Wenn sie gegen Sicherheitsbehörden oder die Polizei protestieren, können unsere Polizisten die Demonstrantinnen auch nicht beschützen."

Es wäre lachhaft, wenn es nicht derart dramatische Auswirkungen auf die tägliche Sicherheit, bzw die nichtvorhandene Sicherheit der ägyptischen Frauen hätten.
Apropos Politik. Was ich mich frage: Wo bleibt die Reaktion des Auslandes? Wenn man von der Aussage von Navi Pillay absieht, bleibt es dort ausgesprochen ruhig. Zu ruhig, wenn man das Ausmaß und die erschreckende Dramatik der Lage in Ägypten sieht. Aber angesichts der politischen Auswirkungen dieser Gewalt ist die Zeit der halbherzigen, beschwichtigenden Kommentare vorbei.

Ich muss sagen, ich weiß nicht, was ich dieser ganzen Lage gegenüber empfinden soll. Ich bin wütend, enttäuscht, aggressiv, hilflos und sprachlos zugleich. Es ist unfassbar, was dort geschieht. Das kann man sich als Bewohner unseres Landes kaum vorstellen. Diese tägliche Gewalt, diese ständig vorhandene Gefahr. Ein einfacher Spaziergang ohne Angstgefühle ist unmöglich.
Es ist eine Situation, die durch nichts ausreichend beschrieben werden kann, schlussendlich.
Ich kann absolut nicht nachvollziehen, wie solche Zustände toleriert, ja geradezu unterstützt werden können. Von Menschen. Die Schwestern haben, Mütter, Töchter.
Umso mehr Respekt habe ich vor den Frauen, oftmals selbst Opfer der Ausschreitungen, und Männern, die sich trotz der Gefahren für ein Ende dieser schrecklichen Zustände einsetzen und versuchen, ein gewisses Maß an Sicherheit wiederherzustellen. Es ist unglaublich, was diese Menschen leisten und welchen Risiken sich aussetzen, um andere zu schützen.
Oh, es macht mich so unglaublich wütend, dass am Ende immer die unter diesem absolut hirnrissigen Machtkampf weniger leiden müssen, die Dinge wollen, die für uns ganz einfach selbstverständlich sind. Gleichberechtigung, politische Mitbestimmung, das Recht auf selbstbestimmte Sexualität, unabhängige Polizei und Justiz - Menschenrechte - freitags einfach nur einen Abenspaziergang machen zu können, ohne vergewaltigt zu werden.

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Quellen und Zusatzliteratur:

Daily News Egypt: Human rights rapidly deteriorating in Egypt: human rights organisations
FAZ: Begrabscht und vergewaltigt
Focus: Übergriffe auf dem Tahrir-Platz in Ägypten: Der Platz der Freiheit in Kairo wird zum Ort der sexuellen Gewalt
France24: Cairo rape video highlights plight of women protesters
Guardian: Tahrir Square sexual assaults reported during anniversary clashes
Handelsblatt: Massenvergegwaltigung auf dem Tahrir-Platz - Platz des Schreckens 
HarassMap: HARASSMAP Staff Member's Personal Account Of Mob Sexual Attacks In Tahrir On Jan25 
Kölner Stadt-Anzeiger: Gewaltexzess am Tahrir-Platz - Eine einzige Vergewaltigung angezeigt 
Lokalkompass: Wer kann wissen, was passiert? Ägyptische Sehnsucht nach Frieden und Freiheit
Op Anti-Sexual Harassment/Assault: Testimony from an Assaulted OpAntiSH Member - January 25th, 2013
SZ: Sexuelle Übergriffe auf dem Tahrir-Platz
Welt: Der Tahrir-Platz ist zum Schmuddelkind verkommen
Welt: Brutale Vergewaltigungen im Schatten des Tahrir
Welt: Armee quälte ägyptische Frauen mit "Jungfrauentests"
Zeit: "Deine Vagina gehört allen"
Zeit: Frauen, die Opfer der ägyptischen Revolution
Zeit: Gottgewollte Gewalt 

Video mit Aufzeichnung eines Übergriffes und Kommentar: http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=KZyo74ESr2s#!
Wenn man auf "Transcript" klickt, gibt es die deutsche Übersetzung des Textes.

1 Kommentar:

  1. Ein sehr wichtiger Artikel, sehr gute Zusammenfassung, wichtige Links, jedoch schade das es nie jemand sehen wird und falls doch sicher nur der Gedanke aufkommt: "Boa is das viel Text"
    -> "Anderer Kontinent" + "keine lächerlich vielen Toten/Gefahr" = "was kümmerts mich"

    Und deswegen wird sich Geschichte immer wieder und wieder Wiederholen. Leider.

    Mr. A

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